Wer hat Schuld
Wer hat angefangen?
Jede Frage hat ihre Zeit und jede Frage sollte zu ihrer Zeit gestellt werden. Wird die Frage zu Unzeit gestellt, kann es sein, dass die Antwort eine falsche ist. Ist erst einmal eine falsche Antwort in der Welt, lässt sie sich kaum mehr einfangen. Die Folgen können fatal sein. Eine solche Frage ist zum Beispiel: Wer hat angefangen? Wer hat Schuld?
Die mit dem besseren Gedächtnis werden sich an diese oder eine ähnliche Szene erinnern: Man sitzt mit seinem besten Freund oder der besten Freundin im Kinderzimmer. Zunächst wird friedlich gespielt. Mit Puppen, Indianerfiguren oder Lego. Im Eifer des Spiels beginnt man sich gegenseitig zu trietzen. Zunächst unter lautem Kichern und Glucksen, wird es einem der Kinder bald zu viel. Es bringt seinem Unmut mit einem lauten "Jetzt hör endlich auf" zum Ausdruck. Das andere Kind hört nicht auf. Das eine Kind hält das andere Kind fest und brüllt ihm ins Gesicht "Jetzt hör endlich auf". Das andere Kind hört nicht auf. Schliesslich schallert das eine Kind dem anderen eine. Das andere Kind hebt darauf ein Jammern und Schreien an, dass ein Eltern aus dem Nebenzimmer auf den Plan ruft.
Das Eltern packt nun das vermeintlich aggressive Kind, schleift es ins Nebenzimmer und zitiert aus dem Levitikus. Das Kind versteht die Welt nicht, wähnt es sich doch im Recht, hat es sich doch lediglich gegen einen Aggressor zur Wehr gesetzt. Doch das ist dem Eltern in dem Moment herzlich egal. Hausarrest bekommt immer, wer beim Zuschlagen erwischt wird. Das war im Kindergarten so, das ist vor Gericht so. Da hilft kein "der hat aber angefangen".
Natürlich wäre das eine riesen Sache, im Nachgang heraus zu bekommen, wer angefangen hat und vor allem warum. Denn kennt man das Warum, könnte man beim nächsten Mal eingreifen, bevor es schallert. Zum Beispiel eine zweite Puppe besorgen oder eine Extrakiste Lego bereit stellen. Wenn die Kinders aber gerade eifrig am gegenseitigen Geschallere sind, dann ist nicht die Zeit für Analyse und Prävention.
So ähnlich ist das oft auch mit Krieg. Nein, eigentlich ist es nicht so ähnlich. Eigentlich ist es ganz anders. Anders bis auf diese eine Sache. Sind sich die beteiligten Staaten erst mal so richtig am Kloppen, dann ist es für den Moment unerheblich, wer denn angefangen hat und warum. Und ob der Grundstein bereits bei der Völkerwanderung gelegt wurde oder ob es um das kaputte Ego des einen Beteiligten geht. Dann muss es ausschliesslich darum gehen, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden und das Leid der Betroffenen zu lindern wo es gerade geht.
Um jetzt mal das Kind beim Namen zu nennen: Natürlich geht es mir um den Krieg in der Ukraine. Da fällt gerade ein grosses Land über ein kleines her. Und das grosse Land lässt sich nicht davon abbringen, Not und Leid zu erzeugen. Jetzt gilt es - egal wie - den Krieg zu beenden. Den Putin zur Räson zu bringen. Den Flüchtlingen zu helfen, wo und wie es gerade geht.
Kein Land ist darauf erpicht, in den Konflikt hineingezogen zu werden. Denn das hiesse mehr Not und mehr Leid für mehr Menschen. Vielleicht hiesse das dann auch, mit dem atomaren Feuer spielen. Und dem Putin, den traue ich alles zu. Der lässt die ganze Welt in einem Flammenmeer versinken, wenn es seinem Ego schmeichelt.
Und weil kein Land erpicht ist, ebenfalls ins Fadenkreuz zu geraten, lavieren die Staaten so herum. Ein wenig Sanktionen hier, ein wenig mehr dort. Waffen werden geliefert, Truppen verschoben. Drohungen werden ausgesprochen, Verhandlungsangebote unterbreitet. Bewegen tut sich bisher nichts.
Was in dieser Situation recht wenig hilfreich ist, das sind all die Stimmen, die mahnend und vorwurfsvoll anheben und mit dem Finger auf allmögliche Verfehlungen der Vergangenheit zu zeigen. Damit wird der Krieg um keine Sekunde verkürzt. Damit ist keinem einzigen Geflüchteten geholfen. Schlimmer noch, damit wird das gegenwärtige Gemetzel verharmlost und relativiert.
Ist der Krieg irgendwann beendet und die Weltgemeinschaft mit einem blauen Auge davon gekommen, dann gilt es zu analysieren. Dann müssen die Ursachen und Mechanismen ausfindig gemacht werden. Dann muss dafür gesorgt werden, dass es zu keinem Überfall eines Landes auf ein anderes mehr kommt. Und dann wird auch darüber zu sprechen sein, welche Rolle die NATO-Osterweiterung spielte. Dann wird auch darüber zu sprechen sein, wie sich Russland, respektive Putin die letzten 30 Jahre seinen Nachbarn gegenüber benommen hat. Dann muss auch noch mal über Jugoslawien und Afghanistan, über den Irak und Syrien gesprochen werden.
Und es werden unangenehme Gespräche ... für alle.
Abschliessend
Zur Vorbereitung auf die Gespräche hinterher eine kurze Rede von Gregor Gysi vorher (2014). Falls jemand meint, man hätte das alles doch nicht wissen können: Doch, hätte man.