Abt.: Todesfalle
Eisbach - sehen und sterben
Im Eisbach sterben die Leute. Das war schon immer so. Meine Eltern hatten Angst um mich. Ich hatte Angst um meinen Sohn.
Wenn meine Eltern gewusst hätten, wie der Eisbach wirklich ist, sie hätten noch viel mehr Angst gehabt.
Und tatsächlich hatte auch ich einmal Angst. Aber der Reihe nach.
Der Eisbach ist kalt. Der Eisbach ist reißend. Der Eisbach ist gefährlich. Das steht außer Frage.
Der Eisbach fließt mitten in München. Er verspricht Abkühlung und Abenteuer. Hunderte, tausende lassen sich Jahr für Jahr zwischen Surferwelle am Haus der Kunst und dem Tivoli vom Eisbach mitreißen. Lassen sich treiben.
Der Nervenkitzel beginnt bei der kleinen Walze unter einer der Eisbachbrücken. Wer sich flach auf dem Wasser treiben lässt, wird nicht viel mehr als ein kleines Auf und Ab wahrnehmen. Versucht man hingegen mit den Füßen den Boden zu ertasten, macht man schnell Bekanntschaft mit einer quer verlaufenden Eisenbahnschiene. Da ist von einem zarten Streicheln über einer kleinen Prellung bis hin zu einer beachtlichen Schürfwunde alles drin.
Etwas weiter wartet die große Walze. Die hat etwas von Wildwasser. Die wirbelt auch erfahrene Schwimmer herum, zieht sie unter Wasser und spuckt sie doch meist unbeschadet wieder aus.
Dann geht es relativ entspannt weiter bis zum Tivoli. Nach der Tivolibrücke sollten geübte, wie ungeübte Schwimmer schleunigst das Ufer suchen. Denn da ist der Rechen des Kraftwerk-Wehrs nicht weit. Und wer sich dort wieder findet ist entweder schon tot oder ist es gleich.
Unter Münchnern wird das Wissen darüber von Generation zu Generation weiter gegeben.
Was den bedachten Münchnern Nervenkitzel, wird für Betrunkene und Touristen schnell zur Todesfalle. Denn die letzte Gelegenheit zum Ausstieg aus dem Bach erfordert etwas Geschicklichkeit. Eine betonierte Schräge trennt den reißenden Bach vom sicheren Ufer. Der Bereich ist lang genug, dass es beim zweiten, dritten oder auch vierten Anlauf gelingt, aus den Fluten zu klettern.
Es sei denn, die Schräge ist dick von Schlick und Algen überzogen. Dann glitschen die Körper der Schwimmer verzweifelt nach Halt suchend Meter um Meter Richtung Wehr und Rechen. Da steigt schon mal Panik auf.
Die Diskussion über die Gefährlichkeit des Eisbachs ist sicher so alt wie der Bach selbst. Und so unverständlich auch. Ist doch der Eisbach kein sich gnadenlos und ungezügelt durch bewohnte Gebiete grabender Moloch. Der Mensch selbst hat ihn geschaffen. Mit Schaufel und Beton ist der Bachlauf nach landschaftsarchitektonischen Gesichtspunkten durch den Englischen Garten gegraben worden.
Und was der Mensch baut, kann der Mensch auch umbauen. Und wenn es dem Menschen ein Graus ist, Leichen aus dem Eisbach zu fischen, nun dann soll er den Bach doch so gestalten, dass es keine Leichen gibt. Und sagt mir nicht, dass das nicht möglich ist.
PS.: Solltet ihr mal in einer Walze oder nach einem Wehr - egal ob als Schimmer, mit dem Schlauchboot oder im Kajak - unter Wasser gezogen werden, versucht nicht an die Oberfläche zu schwimmen. Das schafft ihr nämlich nicht, die Verwirbelungen ziehen euch immer wieder nach unten. Versucht vielmehr so tief zu tauchen wie nur irgend geht, denn spült euch die Strömung von alleine aus dem Gefahrenbereich.
...eigentlich ganz einfach. Aber denkt mal daran, wenn jede Zelle im Körper gerade mit Panik beschäftigt ist.